Festrede der DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier zum 9. Oktober in Leipzig

Freya Klier 2009. ©Robert-Havemann-Gesellschaft/Dirk Vogel

In den Städten brennt die Luft

Am Anfang der Friedlichen Revolution steht rohe Gewalt. Für die DDR-Führung und ihren Machtapparat ist die Konterrevolution bereits seit den aufgedeckten Wahlfälschungen im Mai 1989 bedrohlich fortgeschritten. Sind die Internierungslager bereit? Wie lange sollen sie diesem Treiben - das selbstverständlich von „feindlich-negativen Elementen im Auftrag des US-Imperialismus“ angezettelt wurde - noch zuschauen? Im Juni 89 begrüßen sie mit Egon Krenz das Massaker der chinesischen Regierung am Tian’anmen-Platz in Peking, das mehrere tausend Menschen das Leben kostet, und wünschen sich, gegen die aufmüpfigen DDR-Bürger würde ähnlich hart durchgegriffen, falls die ihre Provokationen nicht beenden.

Im Sommer wird es für die Genossen noch schlimmer: Mit den Ereignissen in Polen, der Fluchtwelle über Ungarn und den Botschaftsbesetzungen spitzt sich die politische Krise der DDR nun derart zu, dass sich spontan oppositionelle Gruppe bilden. Sie nennen sich Neues Forum, Initiative für eine Sozialdemokratische Partei, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt… und sie kommen aus einer Bürgerrechtsbewegung, die schon seit Jahren um Demokratie im Land ringt, zumeist unter dem Dach der Kirche. Sie waren bisher in Friedenskreisen aktiv, haben den Boden für eine Gesellschaft bereitet, die noch nirgendwo in Sicht ist: Ihre Themen waren Abrüstung, Menschenrechte, Umweltschutz, Bewahrung der Schöpfung, Erziehung und Wehrdienstverweigerung. Und nun wird plötzlich auch Bleiben oder Gehen zur Schicksalsfrage. Denn im September 1989 fliehen bereits täglich Menschen in einer Dorf- bis Kleinstadtstärke über die ungarische Grenze.

In Leipzig nehmen im September die Verhaftungen zu, auch in Berlin und Potsdam. Fastenaktionen und Mahnwachen für inhaftierte Bürgerrechtler sind die Antwort darauf. SED und Staatssicherheit verstärken noch einmal ihr Drohpotential. Das halbe Land blickt nun schon montags nach Leipzig: Dort drängen sich am 25.September Menschenmassen in die Nikolaikirche, die wegen Überfüllung geschlossen werden muss. “We shall overcome“ schallt es beim Hinausgehen nach dem Friedensgebet. Der Demonstration schließen sich nun bereits 8000 Menschen an - eine Woche später sind es 25 000 Menschen. Die Friedliche Revolution hat begonnen, doch friedlich verläuft sie bisher nur von Seiten der Demonstranten. Anfang Oktober brennt die Luft: Erich Mielke hat die Mobilisierung aller Reserven befohlen, und so werden in den folgenden Tagen mehr als 5 000 Menschen festgenommen, herrscht in Großstädten wie Dresden, Halle, Magdeburg eine außerordentliche Gewalt. Demonstrationen, vor allem in Dresden, werden mit äußerster Brutalität beendet. Und auch der Horror am 40. Jahrestag der DDR lässt viele traumatisierte Menschen zurück:

Allein in Ost-Berlin werden am 7. Oktober etwa 1070 Personen verhaftet - spontane Demonstranten, aber auch unbeteiligte Bürger. Denn ebenso viele Sicherheitskräfte sind auf den Straßen eingesetzt: Stasi-Personal, Polizisten, Kampfgruppeneinheiten, Strafvollzugsbedienstete, wehrpflichtige Bereitschaftspolizisten, Soldaten, Spezialeinheiten, das MfS-Wachregiment „ Feliks Dzierżyński“, das FDJ-Bataillon der Staatssicherheit und sogar FDJ-Ordnungsgruppen. Am erbarmungslosesten schlägt die „Anti-Terror-Einheit“ des MfS zu. In der Nähe der Berliner Gethsemanekirche 9 gerät eine junge Frau, die vor der Kirche eine Kerze abstellen will, gegen 21.30 Uhr in eine Polizeikette:

 „Ich erlebte, dass Menschen wahllos herausgegriffen und von 2-3 Uniformierten über die Straße geschleift und mit Schlagstöcken verprügelt wurden. Ich sah, wie ein älterer Mann an den Haaren gepackt und immer wieder mit dem Gesicht auf die Straße geschlagen wurde, von 3 Uniformierten. Völlig verzweifelt darüber, war ich nicht in der Lage, mich von der Stelle zu rühren.“

Als der Befehl „Alles festnehmen!“ ertönt, wird auch die Frau - Mutter zweier Kleinkinder - gepackt und mit verdrehtem Arm auf einen LKW geworfen. Ihre Beteuerungen, dass ihre Kinder allein zuhause sind, werden höhnisch ignoriert. In einem Polizeirevier muss sie im Hof zwei Stunden reglos stehen und die Misshandlung anderer Verhafteter miterleben. In der Nacht um 3.30 Uhr wird auch sie, völlig durchgefroren, ins Gefängnis Rummelsburg transportiert. Dort harren die Gefangenen in der Kälte auf dem LKW aus, bevor sie zum Verhör geführt werden. Die meisten der malträtierten Menschen, die sich friedlich für Demokratie einsetzen, landen anschließend in einer Zelle.

Hat auch nur einer der brutalen Schläger seinen Kindern später erzählt, was er unschuldigen Menschen angetan hat? Haben die Schinder einer 40-jährigen Diktatur ihren Anteil daran offen gelegt, dass am Ende fast 4 Millionen DDR-Bürger aus ihrer Heimat geflohen sind? Ich zweifle daran, denn nun macht sich die Nachwuchs-Genossen-Generation daran, diese Diktatur zu glätten. Wie wäre es für die Demokraten Deutschlands, endlich mal genauer hinzuschauen?

Geschichtslügen

Bald nach dem Mauerfall trübte sich unsere Stimmung: Wir sahen, wie durchorganisiert die Genossen wieder Tritt fassten. Die obersten Funktionäre wurden öffentlichkeitswirksam abgesetzt, der Rest formierte sich neu. Die Staatssicherheit benannte sich nach außen um und festigte nach innen ihr mafiotisches Netzwerk. Eine massenhafte Aktenvernichtung begann. Und während sich Runde Tische bildeten, verschwand wie von Geisterhand gesteuert, Volksvermögen im Ausland, wurden Immobilien auf zuverlässige Parteigänger übertragen. Um den Jahreswechsel 1989/90 eilte das Gerücht durchs Land, in der Staatsbank der DDR liefen die Maschinen heiß, ein Insiderkartell bediene sich dort. Auf dem Flughafen in Oslo wurde ein Genosse verhaftet, der 5 Millionen DDR-Mark im Koffer nach Moskau schmuggeln wollte. Zwischen Januar und Mai 1990 - inzwischen war klar, dass es zur deutschen Einheit kommen würde - verschwand ein großer Teil des DDR-Volkseigentums in den eilig gegründeten GmbH der Genossen - den finanziellen Gewinnern der Einheit.

Wir riefen nach dem Verfassungsschutz; die Abteilung ´Regierungskriminalität´ wurde ins Leben gerufen und vermochte wenigstens einige Milliarden des gestohlenen Geldes für den Aufbau Ost zu retten. Die verantwortlichen Genossen aber taten, als ginge sie das alles nichts an. Und schon entdeckte man an einigen Grenzhäuschen die ersten großen Tafeln, auf denen stand „Im Mai richtig wählen: SED-PDS!“

Mit keinem Wort findet sich der Fakt, die DDR-Bevölkerung nach 40 Jahren noch ein letztes Mal schamlos ausgeplündert zu haben, in irgendeiner der antiwestlichen Jammerschriften zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Stattdessen wird jetzt die Nachwende-Zeit zum großen Übel erhoben. Die Treuhand sei an allem Schuld. Deshalb empfehle ich hier dringend das Buch des Spiegel-Journalisten Norbert Poetzl: „Der Treuhand-Komplex“. Seit zwei Jahren sind nämlich die Originalakten des gesamten Treuhand-Vorgangs einsehbar, für jeden. Und die sagen etwas anderes aus als die Darstellung einer DDR-Juristin.

1999, am 10. Jahrestag des Mauerfalls, ist die Stimmung ausgelassen, wirkt alles noch ein wenig wie gestern – die Republik der Trabis und Kittelschürzen, die in einen Kaufrausch stürzte, bei dem die Fresswelle nahtlos in die Möbel- und PKW-Welle überging. Das Glücksgefühl vieler, endlich reisen zu dürfen, wohin man will. Doch spürten viele inzwischen, dass nicht nur der historische, sondern auch der existentielle Einschnitt ein gewaltigerer war, als in der Euphorie vorausgesehen. All das Bekannte und Gewohnte war plötzlich außer Kraft gesetzt; der Teppich unter den Füßen begann bei manchen zu rutschen - es mag ein schäbiger gewesen sein, doch hatten sie bisher mit beiden Beinen drauf gestanden. Seltsame Vorgänge waren zu beobachten: Gekauft wurde plötzlich nur noch, was aus dem Westen kam, dann schlug das um ins Gegenteil. Manche verloren völlig den Verstand: Mitropa-Geschirr wurde massenhaft zerdeppert. Und ein Fernsehbild kriege ich bis heute nicht aus dem Kopf: Da packt ein Brandenburger Bauer ein Schwein aus der grunzenden Meute auf seinem Hänger und schlägt es auf die Bordsteinkante, bis es tot ist. Dazu schreit er den filmenden Journalisten an, seine Schweine fänden keinen Abnehmer mehr, sie seien angeblich zu fett…

Am 20. Jahrestag des Mauerfalls lief ich stolz hinter der Bundeskanzlerin und den beiden entspannten, schon etwas fülligen Herren Gorbatschow und Walesa über die Bornholmer Brücke und brachte meine letzten Russisch-Kenntnisse an den Mann. Die Menschenmasse auf der Brücke wirkte auch nach 20 Jahren befreit und glücklich, sie hatten ja Weltgeschichte erlebt - den Fall der Mauer, das Ende der DDR-Diktatur und die Wiedervereinigung Deutschlands. Dass das Zeitalter eines befreiten, zusammenwachsenden Europas begonnen hat, begrüßten alle vorbehaltlos.

Und wir Deutschen? Mich holte wieder die Dimension der Fluchtwelle vom Sommer 1989 ein. Der Leipziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe hatte aus seinem Umfeld geschildert: „ Der Kinderarzt war auf einmal verschwunden, der Bäcker von nebenan war auf einmal zu, Verwandte und Freunde kamen nicht aus dem Urlaub zurück. Das war das Thema, das jeden bewegt hat, weil jeder davon irgendwie betroffen war.“ Gerade diese Massenflucht hatte die Oppositionsbewegung im Herbst 1989 so stark mobilisiert. Doch erneut stand die Frage: Wer gilt eigentlich als Ostler - der da noch heute wohnt oder auch die Millionen von Menschen, die sich abzusetzen vermochten, ihre schlimmen Diktatur-Erfahrungen aber nicht mehr aus der Seele kriegen?

Auch zahlreiche DDR-Lehrer wechselten 1990 rasch in ein westliches Bundesland und dockten dort an einer demokratischen Schule an. Die Kollegen aus Ost und West arbeiten nun seit Jahren prima zusammen. Ich erlebe das immer wieder, denn ich bin oft in ihren Schulen in Hessen, Bayern oder Niedersachsen, NRW oder Baden-Württemberg. Dann erarbeiten wir mit den Schülern den Unterschied zwischen ihrer Demokratie und einer Diktatur.

Die Lücken in den Lehrerkollektiven wurden 1990 – Frau Honecker war da längst abgesetzt - mit seltsamen Quereinsteigern gefüllt: Hauptamtliche Staatssicherheits-Mitarbeiter, deren Arbeitsort ja nun nicht mehr existierte, wurden plötzlich Lehrer… an staatlichen Schulen, wo sie keiner kannte, aber zuverlässige Genossen auf sie warteten. Zu den Quereinsteigern gehörten auch Politoffiziere – ideologische Scharfmacher der DDR-Armee, die von der Bundeswehr nicht übernommen wurden…

Falls Sie nun meinen, das sei 30 Jahre später nicht mehr relevant, so irren Sie: Vor 10 Jahren hat an dieser Stelle hier der Bürgerrechtler und GRÜNEN-Politiker Werner Schulz die Bürgerrechtsrede gehalten. Seine Tochter ist Lehrerin an einer Ostberliner Schule und musste jahrelang die Machtgebaren eines solchen Quereinsteigers ertragen, eines ehemaligen NVA-Offiziers. Inzwischen hat er es zum Schulleiter an einem humanistischen Gymnasium gebracht und dieses mit seinen Erfahrungen in Drill und Subordination umgekrempelt. Die junge Lehrerin musste miterleben, wie die meisten Kolleginnen und Kollegen sich schleichend an die neue Macht anpassten - und jenen Untertanengeist zeigten, von dem schon ihre Eltern ausgiebig berichtet hatten. Inzwischen hat sie die Schule gewechselt.

Zum Schluss:

„Mein 11. Gebot: Du sollst Dich erinnern!“

Welche Geschichten erinnern wir, welche Menschen nach 40 Jahren Diktatur? An den Vater von Stephan Krawczyk denke ich derzeit oft - einen Bergmann aus Thüringen, der sich im Uran-Schacht die Staublunge geholt hatte und nun in der Mitte seines Lebens dahinsiechte - so, wie die meisten seiner Kumpel. Kein Mensch interessierte sich mehr für die Todkranken, erst recht kein sozialistischer Genosse. 1986 stürzte der Vater sich aus seiner Wohnung im 10. Stock in die Tiefe, kurz vor seinem 56. Geburtstag. Feuerwehrleute brachten Stephans Mutter – wegen des Edelmetalls – die Zähne des Toten hinauf, in ein Taschentuch gewickelt. Manchen hatte es schon vorher erwischt, bei dem einen oder anderen Unglück im Schacht - junge Männer, zermalmt von Geröll oder Ketten…worüber keine Zeitung berichtete.

Wenn die Machthaber und ihre Mitläufer etwas nicht interessierte, dann war es der Mensch. Ausschließlich dessen Arbeitskraft zählte, weil diese weiterhin Macht und Wohlstand

garantierte. Deshalb denke ich auch ab und zu an den Theologen Matthias Vernaldi, der mit Muskelschwund im Rollstuhl saß, schon seit seiner Kindheit. Für Menschen wie ihn und andere Rollstuhlfahrer wurde keine einzige Schräge im Land gebaut - sie sollten gar nicht erst auftauchen im Straßenbild der DDR. Und während „vollwertige“ Arbeitskräfte verhaftet, gar erschossen wurden, sobald sie das Land Richtung Westen zu verlassen suchten, durften Behinderte jederzeit raus aus dem Land, am liebsten für immer. Denn sie brachten den Genossen ja kein Geld, sie kosteten. Matthias Vernaldi aber war ein Bürgerrechtler, ein Dissident: So rollte er zwar in Abständen rüber nach West-Berlin, kehrte aber stets von dort zurück - unter seinem kleinen, schiefen Körper schmuggelte er verbotene Schriften und Bücher herein.

Der Tod meines Bruders fällt mir ein, der ein DDR-Opfer war - dazu jene Staatsanwältin, die wohl das Leben vieler Menschen zerstört hat… und die 1993 in einem Dresdner Zeitungsinterview behauptete, die DDR sei ein menschlicher Staat gewesen - bis dann die Westler kamen und alles platt machten… Sind wir inzwischen wieder auf diesem Niveau?

Doch es gibt auch gute Geschichten; in totalitären Systemen sind sie meist an irgendeinen Widerstand gekoppelt, oft an einen unauffälligen: Als ich 1988 verhaftet wurde, gingen die Kollegen meiner Mutter, einer Ingenieurökonomin, besonders warmherzig mit ihr um. An keiner Bürgerrechtsdemo haben sich diese Kollegen im Herbst 89 beteiligt - und doch waren und sind es gute, hilfsbereite Menschen. Sie sind Teil jener bürgerlichen Mitte, die nur selten in den Focus der Öffentlichkeit gerät.

Eine letzte Erinnerung gehört noch nach Leipzig: Denn hier habe ich ja in den frühen 70-er Jahren Schauspiel studiert. Und da widerfuhr mir etwas, das es eigentlich gar nicht gab in der DDR: Dank der Theaterhochschule und ihrer legendären Dozentin Dr. Käthe Seelig durfte ich nach einem Fluchtversuch aufgrund des Unrechts an meinem Bruder, wofür nun auch ich ins Gefängnis kam, mein Schauspielstudium noch einmal beginnen. Wieso war das möglich, werde ich noch heute von DDR-Kennern gefragt, denn nach einem Gefängnisaufenthalt mit politischem Hintergrund hast Du keinen Studienplatz mehr gesehen. Frau Käthe Seelig aber fuhr nach Dresden zu meiner Mutter und Großmutter und wollte den Grund für meinen Fluchtversuch erkunden. Danach durfte ich mein Studium noch einmal beginnen. (Hier füge ich hinzu, dass Theater in der DDR eine tolle und ziemlich widerständige Erfahrung war. Die Ausbildung war erstklassig. Wer aber hatte schon das Glück, in einem Theater zu arbeiten?)

Nun: Vor wenigen Jahren legte eine Hamburger Freundin einem Brief an mich einen aktuellen Zeitungsartikel aus dem berüchtigten Neuen Deutschland bei, dessen Überschrift lautete: ´Die älteste Leserin des Neuen Deutschland, die 100-jährige Brandenburgerin Dr. Käthe Seelig!´ Daneben hatte meine Freundin geschrieben: ´Die Blöden sterben nicht aus…´ Ich schrieb zurück und verteidigte nun heftig meine Retterin, die -völlig gegen den Strom ihrer Partei - damals sehr menschlich und glaubwürdig gehandelt hatte. Nun gerieten wir bis zu ihrem Tod mit 103 Jahren in einen schwächer werdenden, doch überaus herzlichen Briefwechsel.

Ja, selbst in der DDR hatte ich einen Engel über mir. Warum der aber lebenslänglich das Neue Deutschland lesen musste?

Gottes Wege sind eben unergründlich.

 

Leipzig, 9. Oktober 2019